Als Zeitungsleser weiß man häufig nicht, ob die abgedruckten Stellungnahmen der großen Gesundheitsbehörden zur Vogelgrippe (oder Aviären Influenza, „H5N1“) tatsächlich auf eine sorgfältige Lagebewertung zurückzuführen sind, oder auf einem einzelnen Interview mit einem gestreßten Mitarbeiter beruhen, der nach einem harten Arbeitstag nun auch noch auch noch Anfragen der Presse beantworten muß.
Davon abgesehen fördert der Markt der Meinungen kaum die differenzierte Berichterstattung über globale Bedrohungen. Glücklicherweise veröffentlichen viele Gesundheitsbehörden heutzutage ihre Lagebewertungen in einer Weise, die für interessierte Bürger zugänglich sind:
Die Weltgesundheitsbehörde WHO veröffentlicht eine Übersichtsseite zur Aviären Influenza
. Dort finden sich unter anderem durch Laboruntersuchungen bestätigte Fälle beim Menschen, aufgeschlüsselt nach Ländern. Ebenso gibt die WHO regelmäßig Lageberichte zur Situation in einzelnen Ländern und Regionen heraus.
Das U.S.-amerikanische Center for Disease Control and Prevention bietet ebenfalls eine Informationsseite zur Vogelgrippe
an. Dort finden sich auch Hinweise zum Chiron-Debakel
, das zu einer Knappheit bei einem bestimmten (allerdings nicht für die Vogelgrippe relevanten) Impfstoff führte (siehe auch U.S. Knew Last Year of Flu Vaccine Plant's Woes
, Washington Post, November 2004).
Die zuständige EU-Behörde, das European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC), begann ihre Arbeit erst im Mai 2005. Einige Veröffentlichungen zur Vogelgrippe liegen bereits vor, aber offensichtlich gibt es noch keine systematischen Veröffentlichungen.
In Deutschland gibt das Robert-Koch-Institut regelmäßig Veröffentlichungen zum Thema heraus und pflegt eine Übersichtsseite zur Aviären Influenza
.
Insbesondere WHO und CDC lieferten hilfreiches (weil beruhigendes) Datenmaterial, als SARS noch als die nächste Pandemie galt. Natürlich agieren diese Organisation immer noch als Mittler, aber obwohl ihre Ergebnisse und deren Darstellung sicherlich Auswirkungen auf die zukünftige Mittelverteilung haben, scheinen sie doch distanzierter vorzugehen als die meisten Journalisten.
Nach der oberflächlichen Lektüre einiger der oben genannten Quellen stellt sich mir die Situation wie folgt dar:
Die Aviäre Influenza A (H5N1) kann sehr leicht Vogel zu Vogel (insbesondere in der Geflügelhaltung) übertragen werden („hochpathogen“).
Eine Überspringen auf den Menschen ist dagegen unwahrscheinlich und betrifft hauptsächlich Personengruppen, die mit befallenem Geflügel arbeiten. Das Risiko kann durch Vorsichtsmaßnahmen weiter reduziert werden. Für den Zeitraum von Mitte Dezember 2004 bis Mitte Oktober 2005 wurden der WHO lediglich 121 Fälle gemeldet, die durch Laboruntersuchungen bestätigt wurden und von denen 62 tödlich ausgingen.
Demgegenüber stehen nach WHO-Schätzungen jährlich 250 000 bis 500 000 menschliche Todesfälle, die durch andere Influenza-Arten verursacht wurden – hauptsächlich bei Risikogruppen wie älteren Menschen. Angesichts der Verbreitung von H5N1 in Geflügel – über 100 Millionen Tiere fielen der Krankheit zum Opfer oder wurden präventiv getötet – ist die Zahl der menschlichen Infektionen folglich noch immer sehr niedrig.
Eine Übertragung von Mensch zu Mensch ist noch seltener als die Infektion von Menschen durch Kontakt mit Geflügel, und eine längere Infektionskette von Mensch zu Mensch wurde bislang überhaupt nicht dokumentiert. Der gegenwärtige Stand ist also nicht mit der gewöhnlichen Grippe vergleichbar, die bereits durch Tröpfcheninfektion verbreitet wird.
Impfstoffe, die möglicherweise vor einer H5N1-Variante schützen, die leicht von Mensch zu Mensch übertragen wird, stehen dem Durchschnittsbürger derzeit nicht zur Verfügung. Unsere Möglichkeiten, sich auf eine eventuelle Pandemie vorzubereiten, sind also äußerst begrenzt.
Trotzdem bleibt natürlich die Sorge, daß eine Änderung des Virus zu einer Pandemie führt, die mit der Spanischen Grippe (1918/1919, sozusagen der “worst case”), der Asiatische Grippe (1957) oder der Hong-Kong-Grippe (1968) vergleichbar ist.
2005-10-31 14:45: veröffentlicht